Gestatten: Levi

Der Name Levi bedeutet im Hebräischen so viel wie »verbunden sein«. Er kann aber auch die Kurzform des ungarischen Namens Levante sein, was »Held« oder »Ritter« bedeutet. Beides trifft auf diesen besonderen Gast von mir zu.

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Jeder hat sie schon einmal erlebt: Die Momente, in denen einem die Worte fehlen. In denen es für einen Augenblick ganz still wird. Und durch die einem die eigenen Probleme plötzlich ganz klein und belanglos vorkommen. Solche Momente hatte ich vor kurzem und sie beschäftigen mich noch immer. Der Grund hierfür ist ein besonderer Gast, den ich vor nicht allzu langer Zeit massiert habe. Davon möchte ich heute erzählen.

Alles begann mit einem Anruf der Hotelrezeption und einer völlig alltäglichen Anfrage, ob ich zu einer bestimmten Uhrzeit an drei aufeinanderfolgenden Tagen noch freie Zeit für Massagen hätte. Das ist schon allein deshalb nichts Ungewöhnliches, weil viele Hotelgäste während einer telefonischen Zimmerreservierung häufig auch schon Termine für Wellness-Behandlungen festlegen möchten. Hier lag die Sache allerdings etwas anders, denn durch die Kollegin der Rezeption erfuhr ich, dass es sich eben nicht um irgendeinen Hotelgast, sondern um den sieben Jahre alten Sohn einer Familie handle. Aus diesem Grund vergewisserte sie sich explizit noch einmal bei mir, ob dieser Termin für mich auch wirklich in Ordnung ginge.

Es wäre mehr als übertrieben zu sagen, dass Kinder in einem Spa-Bereich an der Tagesordnung sind. Allerdings hatte ich in der Vergangenheit durchaus schon Kinder oder Jugendliche auf meiner Massageliege. Meist nach Unfällen, bei denen, unabhängig bzw. ergänzend zu den medizinischen Reha-Maßnahmen, eine entspannende Massage durchaus sinnvoll sein kann. Von irgendetwas in dieser Art ging ich daher auch in diesem Fall aus.

Bedenken

Für meine Antwort überlegte und wartete ich aber dann doch noch einen Moment länger. Denn für Massagen liegt es natürlich in der Natur der Sache, Körperkontakt mit dem Gast zu haben. Der ein oder andere ahnt vielleicht schon, worauf ich hinaus will. Ein Kind, nackte Haut und ein erwachsener Mann. Das sind drei Dinge, die, wenn man sie in einem Atemzug nennt, wohl bei vielen sehr, sehr unschöne Gedanken hervorrufen. Und sowohl als Mann, als auch als Vater sage ich: Völlig zu Recht!

Als Masseur – insbesondere als männlicher – bin ich mir auch nach Jahren in meinem Job immer darüber im Klaren, dass es sehr schnell sehr problematisch werden könnte. Denn wie eine ärztliche Behandlung findet auch eine Massage nun mal bei geschlossener Tür statt. Und eine wie auch immer geartete Anschuldigung widerlegen zu müssen, ist nicht nur eine grauenvolle Vorstellung, sondern wäre wohl schlicht und ergreifend auch kaum möglich. Über die weiteren Folgen will man schon gar nicht nachdenken. Für Außenstehende mögen diese Dinge weit hergeholt klingen. Für viele meiner männlichen Berufskollegen ist das aber durchaus ein Thema. Man möge mir also bitte nachsehen, dass ich dieses Thema zur Sprache gebracht habe. Aber es gehört irgendwie eben doch dazu. Leider.

Durch diese Gedanken im Hinterkopf kam meine Antwort wohl etwas zögerlich und ich fragte stattdessen bei der Dame der Rezeption nach, ob der Junge denn allein käme. Im Nachhinein betrachtet eine doch schon sehr abstruse Vermutung, dass ein Siebenjähriger völlig allein zu einem Massagetermin marschiert. Aber manchmal setzt die Logik eben auch kurz mal aus. Nach der Antwort, dass er von seiner Oma begleitet würde, war ich dann aber doch schnell beruhigt. Ich sagte zu und die Termine standen in meinem Kalender.

Pünktlich zur vereinbarten Zeit war es dann soweit: Levi stand gemeinsam mit seiner Oma vor mir in der Spa-Lounge. Nein, stehen stimmt nicht ganz. Er tippelte vielmehr etwas aufgeregt auf der Stelle. Irgendwelche offensichtlichen Anzeichen eines Unfalls konnte ich auf den ersten Blick nicht erkennen. Ein wenig pummelig war er vielleicht, ja und? Ich futtere auch gern Schokolade! Auf mich wirkte Levi wie ein kleiner aufgeweckter Junge. Nach einer sehr netten Begrüßung brachte die Großmutter nun Licht ins Dunkel:

Levis Geschichte

Bereits in seinem zweiten Lebensjahr wurde bei Levi ein Hirntumor diagnostiziert. Ein Tumor in beachtlicher Größe. Noch dazu in einer Lage, die auch aus operativer Sicht mehr als ungünstig ist: Sozusagen mitten im Kopf an der sogenannten Hypophyse. Geläufiger ist manchem vielleicht die Bezeichnung der Hirnanhangdrüse. Sie ist eine Art Schnittstelle, mit der das Gehirn durch die Freisetzung von Hormonen verschiedene Vorgänge reguliert. Das Wachstum, die Fortpflanzung, den Stoffwechsel. Dass Levis Tumor als gutartig diagnostiziert wurde, dürfte, wenn überhaupt, nur ein sehr schwacher Trost gewesen sein.

Der Tumor konnte nicht vollständig entfernt werden und durch die Operation kam es zu nahezu unvermeidlichen Schäden an der Hypophyse. Viele der Hormone, die dort gebildet oder angeregt werden, müssen nun durch Medikamente ersetzt werden. Vor allem durch Hydrocortison. Was ich auf meinen ersten Blick mit pummelig eingeordnet hatte, ist vielmehr eine Nebenwirkung der Medikamente.

Als wäre das alles nicht schon mehr als genug, erkrankte Levi in Folge der Operation auch noch an Diabetes insipidus, einer Krankheit, die mit der Regulierung des Wasserhaushaltes zu tun hat. Levi muss sich dadurch unter anderem mit einer permanent erhöhten Körpertemperatur herumplagen. Zwar ist seine Temperatur mittlerweile von ehemals 39° auf etwa 37,5° gefallen; je nach Tagesform hat er aber nach wie vor mit Kopfschmerzen oder Migräne zu kämpfen. Zur Erinnerung: Dies alles bereits seit seinem zweiten Lebensjahr.

Die eigentliche Operation aber auch die monatelangen Aufenthalte im Krankenhaus haben Levi in hohem Maße traumatisiert. Seine Motorik aber auch seine kognitiven Fähigkeiten haben stark gelitten und ihn zu einem gehandicapten Menschen gemacht. Und er wird es bleiben. Im alltäglichen Sprachgebrauch würden die meisten von uns wohl von einer geistigen Behinderung sprechen. Aber ganz gleich welchen Begriff man für angebracht halten mag: Levi sollte mir noch zeigen, wie unpassend pauschal eine Bezeichnung doch sein kann.

Levis Geschenk

Seine Großmutter, »Oma Christel«, erzählte mir, dass Levi sich schon im Vorfeld unglaublich auf die Massage gefreut habe. Das war ihm auch deutlich anzusehen, denn immer aufgeregter – im positiven Sinne – wurde der kleine Mann. Und mein erster Gedanke war: »Ein so kleines Kind bei einer einstündigen Massage – das geht nicht gut!«. Im Sinne von »So lange hält der Kleine definitiv nicht still!«.

Was soll ich sagen? Ihr könnt euch nicht vorstellen, mit welcher Inbrunst Levi die Ganzkörpermassage genossen hat! Während der gesamten Massage sprach Levi kein einziges unaufgefordertes Wort. Er ließ sich fallen. Komplett und kompromisslos. Jeden Griff, jede Streichung, jede einzelne Berührung sog Levi förmlich in sich auf, als würde er alles in einem hierfür vorgesehenen Reservoir aufnehmen und speichern. Eine Art Trancezustand schien bei ihm einzusetzen, was sich insbesondere auch an seinen Augen ablesen ließ. Sie verdrehten sich leicht und signalisierten, dass Levi sich in einer Phase zwischen wach und schlafend befand. In diesem Zustand schien alles ausschließlich auf Wahrnehmungen und Empfindungen fokussiert zu sein. Alles, wirklich alles, was an und um seinen Körper herum geschah, genoss er. Alles andere, das ihn hierbei auch nur irgendwie beeinträchtigen könnte, schien er komplett auszublenden. Keine Spur von Schmerz, Unwohlsein, Scheu.

In der Vergangenheit konnte ich ein ähnliches Verhalten vereinzelt auch schon bei anderen, häufig auch älteren, Gästen beobachten. Nicht ganz so ausgeprägt vielleicht, aber auch in diesen Fällen gibt es irgendwann ein spezielles Zeichen. Ein Zeichen das signalisiert, dass ein besonderer Zustand erreicht ist: Ein unnachahmliches Seufzen. Ein Seufzen, das tief aus dem Innersten zu kommen scheint und das mir immer signalisiert: »Angekommen! Irgendwo tief im Inneren und mit jeder Faser des Seins!«. Ich durfte es auch bei Levi fühlen und hören!

Ich hatte bereits erwähnt, dass Levi sehr häufig von Kopfschmerzen geplagt wird. Dennoch ließ er es sogar zu, eine komplette Kopf- und Gesichtsmassage in den Ablauf der Massage zu integrieren. Dies weiß ich umso mehr zu schätzen, nachdem Oma Christel mir erzählte, dass Levi im ersten Jahr nach der Operation nicht einmal zuließ, sich die Haare waschen zu lassen. Und auch heute noch würde er jegliche »Manipulation« am Kopf nur mit äußerster Sensibilität hinnehmen. Levi machte mir auf seine Art also ein unvergleichliches Geschenk: Vertrauen.

Der Pool

Levis Verhalten, seine Hingabe und sein Vertrauen machten Oma Christel dann auch sichtlich perplex. So hatte sie, noch dazu einem Fremden gegenüber, ihren kleinen Enkel bislang nicht erlebt. Mit seinen Eltern und seiner älteren Schwester wohnt Levi im süddeutschen Raum. Auch Oma Christel ist dort zuhause und kümmert sich dort sehr häufig um Levi. Ein exzellentes Beispiel für generationenübergreifendes Familienleben. Und auch für den Familienausflug nach Dresden hatte sich die Oma wohl vorgenommen, nicht nur Levi sondern auch dem Rest der Familie eine Auszeit vom Alltag zu bescheren. Während Levis Eltern mit seiner Schwester die Stadt erkundeten, kümmerte sich Oma Christel um den Sprössling der Familie. Und ohne es vermutlich vorher geahnt zu haben, trafen die für Levi gebuchten Massagen offenbar voll ins Schwarze. Auf die Frage seiner Oma »Wollen wir den Tilo denn mit nach Hause nehmen?«, nickte er freudig. Und ich musste mal kurz schlucken. Wir verabschiedeten uns voneinander. Und nicht nur Levi und Oma Christel sondern auch mir war die Vorfreude auf die Termine der beiden kommende Tage deutlich anzumerken.

Vor der Verabschiedung erregte dann aber noch etwas anderes Levis Aufmerksamkeit. Der Pool! Oma Christel machten hierbei aber die steilen Leitern für den Einstieg im Pool Sorgen und sie fragte mich daher, ob ich denn am nächsten Tag auch hierfür bei Levi bleiben könne. Und so war schnell klar, dass ich für den kommenden Tag die Badehose einpacken würde, so dass Levi angstfrei mit mir gemeinsam im Pool planschen kann. Als Vater von zwei Söhnen und Opa eines Enkels sollte es daran ja nun wirklich nicht scheitern…

Und so verliefen dann auch die beiden folgenden Tage mit Levi. Jeweils eine einstündige Massage, bei der er sich wirklich allen Berührungen und Massagetechniken hingab und wie schon am ersten Tag in seinem ganz eigenen und besonderen Trancezustand voll und ganz abschaltete. Und anschließend natürlich ausgiebiger Spaß im Pool! Das Highlight der letzten Behandlung war aber ohne Zweifel die Massage mit den »heißen« Steinen. Unbedingt wollte ich Levi einmal das Gefühl erleben lassen, die warmen und gefühlt eher »weichen« und »zarten« Steine auf seiner Haut und in den eigenen Händen zu spüren, die ich für die sogenannte Hot-Stone-Massage verwende. Levis Reaktion war einfach nur umwerfend und beeindruckend zugleich. Und natürlich gab es einen der Steine als Erinnerung mit nach Hause.

Oma Christel nutzte die Zeit der Massagen übrigens ebenfalls. Im Barocksessel meines Massageraumes machte sie es sich bequem und genoss während Levis Massagestunde sichtlich, auch selbst mal etwas Abstand vom Alltagstrubel zu gewinnen. In der Folge durfte ich auch Levis restliche Familie kennenlernen und erfuhr so auch die ganzen Einzelheiten seiner Geschichte.

Eine besondere Gabe

Ja, der kleine Mann hat deutlich sichtbare Defizite. Und ja, auch für die Familie bedeutet die Erkrankung des eigenen Kindes unbestritten, sich auch im Alltag vielen Strapazen stellen zu müssen. Und dennoch fällt es mir persönlich schwer, Levi als behindert anzusehen. Er mag das eine oder andere nicht so bewerkstelligen können, wie andere Kinder in seinem Alter. Aber Levi hat dafür eine ganz besondere Gabe, die mich begeistert und beeindruckt hat: Von der ersten Minute an, brachte Levi mir eine kompromisslose Offenherzigkeit und ein unglaubliches Vertrauen entgegen. Ein Vertrauen für all das, was ich ihm im Zuge der Massagen aber auch für alles andere drumherum geben wollte. In etwa so, als hätte er instinktiv gespürt, dass es jemand sehr gut mit ihm meint und es ihm erlaubt ist, sich fallenzulassen.

Vor einigen Tagen erreichte mich eine E-Mail von Levis Mutter. Und mit ihrer Erlaubnis veröffentliche ich einige Abschnitte:


Hallo Herr Weidig,

wir denken so gerne an die schönen Tage in Dresden zurück. Sie haben Levi sehr glücklich gemacht. Am Montag hat die Schule wieder begonnen und seine Lehrerin hat mir berichtet, dass er auf die Frage: »Was hat dir denn an Dresden besonders gut gefallen?« geantwortet hat: »Tilo!«

Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie sich so liebevoll um Levi bemüht und gekümmert haben, denn an Levis Wohlbefinden hängt indirekt das der gesamten Familie, insbesondere dann, wenn wir auf Reisen sind. Es ist nämlich gar nicht so einfach, beiden Kindern gerecht zu werden

Dank Ihrer großartigen Unterstützung ist der Plan aufgegangen, beide Kinder und die Erwachsenen hatten wunderschöne Tage in Dresden. Herzlichen Dank dafür!


Zu Beginn schrieb ich schon kurz über diese besonderen Augenblicke, in denen einem kurz die Worte fehlen. Nach dem Lesen dieser Zeilen war wieder ein solcher Moment da. Und ich freue mich riesig, dass es mit Levi Stück für Stück aufwärts geht. Der tapfere kleine Mann kämpft sich durchs Leben. Er besucht inzwischen die erste Klasse einer Integrationsschule und fährt sogar schon allein mit dem Schulbus nach Hause. Und die Massagen hatten offenbar eine so ausgleichende Wirkung auf ihn, dass die Familie mittlerweile sogar überlegt, nun auch in seiner süddeutschen Heimat regelmäßige Massagen für Levi zu organisieren.

Ein letzter Absatz aus der E-Mail von Levis Mutter:


Die Traurigkeit allerdings bleibt. Und die Sorge, dass der derzeitige Status erhalten bleiben kann, denn der Tumor könnte ja wieder beginnen zu wachsen. Umso wertvoller ist jeder schöne Tag, der mit einem Lächeln beginnt und damit endet. Sie haben ihm dieses Lächeln auf Gesicht gezaubert… Tausend Dank!


Ich massiere nun schon seit vielen Jahren. Und schon seit langem empfinde ich Massieren für mich nicht nur als Beruf, sondern vielmehr als Berufung. Einfach, weil ich es von Herzen gern mache. Wie wohl jeder von uns, freue auch ich mich enorm über Lob und positives Feedback für meine Arbeit. Und ja, wenn ich mal erwähne, dass ich einen Eintrag von Calvin Klein in meinem Gästebuch habe oder ein gewisser Tom Hanks schon auf meiner Liege geschlummert hat, schwingt da zugegebenermaßen auch ein gewisser Stolz mit. Aber dann kommt plötzlich so ein kleiner Levi und beeindruckt einfach nur damit, dass er so ist, wie er ist und wie er sein Leben meistert. In jedem Fall hat er mich beeindruckt. Und wenn die beiden ihn kennenlernen würden: Calvin und Tom ganz sicher auch…

Lieber Levi,

für deinen nächsten Besuch in Dresden ist schon eine Seite in meinem Gästebuch für dich reserviert. Ich freu mich auf dich!

Dein Tilo